Warum es uns egal sein sollte, ob Relotiusʼ Geschichten falsch sind

von Benjamin

I.

Zum Falle Relotius sagte ich neulich in meinem Medienethik-Kurs, dass er ethisch wenig Diskussionsbedarf hergebe – zumindest der grundlegende Tatbestand der Unwahrhaftigkeit liegt auf der Hand und es sind keine besonderen Rechtfertigungen absehbar. „Medienethik“ wäre hier nur die Diskussion abschreckender Beispiele, welche zwar vielleicht der moralischen Erziehung angehender Medienschaffender dienen kann, aber kein theoretisches Handwerkszeug zur Lösung echter Dilemmata liefert. Ethik sollte Reflexionstheorie der Moral sein, welche gängige Vorstellungen auch zu kritisieren erlaubt und manchmal zu kontraintuitiven Folgerungen kommt, zumindest jedoch auch etwas anspruchsvollere Probleme zu diskutieren erlaubt.

Vielleicht ergeben sich entfernter liegende ethische Herausforderungen, aber eine Medienethik und kritische Theorie der Medien haben vielleicht größere Aufgaben, etwa eine politökonomische und anerkennungstheoretische Kritik der Medien, welche die Verschwörungstheorien der „Lügenpresse“-Rufenden ebenso umschifft wie den platten Ökonomismus, nicht nur müden Kulturpessimismus aufwärmt, nicht in elitärem Dünkel auf das Publikum oder die Medienverdrossenen herabschaut, sie aber auch nicht zu durchweg kritischen Geistern verklärt, nicht die oft vagen journalistischen Normen nachplappert, die doch manchmal so höchst ausgrenzend sein und bedenkliche Weltbilder reproduzieren können, während sie den Berufsstand und seine Praxis legitimieren usw. Das soll aber hier nicht Gegenstand sein.

Die Anhängerschaft des kritischen Rationalismus wiederum wird ohnehin fordern, Werturteile aus der Untersuchung journalistischer Tätigkeiten und sogar der Verfehlungen rauszuhalten. Ob das vollständig möglich ist, wäre eine andere Sache. Interessant ist freilich, dass nach meiner Beobachtung gerade einiger der „Positivistischsten“ im Fach in gewisser Weise darauf beharren, ihre Gegenstände zu beurteilen. Sie untersuchen z.B. nicht etwa nur, welche Nachrichten überhaupt geglaubt, verbreitet usw. werden, sondern sie untersuchen heute gerne falsche Nachrichten – also solche, die sie selbst als falsch beurteilen (und ich will diese Einstufung hier überhaupt nicht kritisieren – meist wird man zustimmen können, dass es sich um Falschmeldungen handelt): nicht unbedingt Einzelfälle wie Relotius, aber etwa die vieldiskutierten „Fake News“ in ihrer Masse, ihre Verbreitung, Glaubwürdigkeit, Bekämpfung usw.

Dass die interessierenden Nachrichten falsch sind, ist natürlich kein Werturteil im engeren Sinne, aber eben ein persönliches Urteil über den Gegenstand, das nicht unbedingt nur die Relevanz begründen soll, sondern auch in die Definition des Gegenstandes eingeht. Alleine die Annahme, Irrtümer seien erklärungsbedürftiger als wahre Überzeugungen, ist bedenklich, und dass es eine gute Idee für die Stichprobenziehung sei, seine Grundgesamtheit als „alles was (in einem Bereich) falsch ist“ festzulegen, halte ich für eine erkenntnistheoretisch und methodisch gefährliche Idee.

Man stelle sich vor, jemand hätte sich vor längerer Zeit die Frage gestellt: Woher kommt der Trend zu dieser Art Reportagen, warum werden sie geschrieben und veröffentlicht, wer liest die, warum gewinnen die Preise usw.? Und dabei hätte man die Reportagen von Relotius als Fallbeispiel herangezogen. Man hätte Erklärungen gefunden, Theorien entwickelt oder geprüft, Befunde veröffentlicht usw. Dann stellt sich aber raus: Diese Reportagen waren ja falsch! Muss man jetzt die ganze Forschung wegwerfen? Nein, denn die Erklärungen für die Veröffentlichung und Rezeption bzw. Wirkungen stimmen ja nach wie vor! Relevant ist ja vor allem, wie andere diese Texte wahrgenommen haben. Gänzlich irrelevant für die Erklärungen ist, was man heute darüber weiß bzw. was ich als Forscher weiß oder (sicher) zu wissen glaube. Man darf sich also auch nicht irre machen lassen, wenn man den Fall aus der heutigen Sicht analysiert, und dem Gefühl nachgeben, dass man jetzt irgendwie anders herangehen müsste. Nur die Relevanz scheint vielleicht eine andere, erst jetzt kommt man auf die Idee, dass es da etwas zu forschen gebe (und das kann ein Problem sein, denn es kann ein seltsames Bild entstehen, wenn man nur auf bestimmte problematische Dinge achtet und nicht die unbeachteten problematisiert bzw. eine Sache einmal in ihrer Breite erforscht).

Das Argument gilt auch dann, wenn die zeitlichen Verhältnisse andere sind. Nehmen wir an, ich interessiere mich dafür, warum Leute „Fake News“ glauben (wie auch immer ich sie im Detail definiere – jedenfalls geht es um Nachrichten, die nach meiner sicheren Überzeugung falsch sind). Muss ich dann nicht auch fragen, warum die Leute Nachrichten glauben, die ich für richtig halte? Zumindest müsste das keinen Unterschied für die Erklärung machen. Wenn Leute Nachrichten glauben, die ich wahr finde, dann kann ich das ja nicht damit begründen, dass sie eben wahr sind. Das erklärt nichts und außerdem glauben manche Leute auch Dinge nicht, die ich wahr finde, und rufen dann „Lügenpresse!“ Ich muss eben davon ausgehen, was die Leute glauben, und dann nach den tatsächlichen Gründen suchen. Meine Überzeugung – so wichtig es sein mag, Überzeugungen zu haben – hilft da nicht weiter.

Man könnte natürlich sagen: Ich untersuche Vertrauen nur anhand von Nachrichten, die ich falsch finde – das ist im Moment relevanter („postfaktisches Zeitalter“ usw.). Das ist aber gefährlich, denn das ist eine seltsame Stichprobe. Ich muss also generell nach Gründen fragen, warum Leute etwas glauben (das werden natürlich unterschiedliche Gründe sein, einige da wichtiger, andere dort, andere werden keine Rolle spielen). Meine Überzeugung, was wahre und falsche Nachrichten sind, ist aber natürlich nicht unkorreliert mit den Eigenschaften, Quellen usw. von Nachrichten. Wenn ich nun die Gründe für Glaubwürdigkeit anhand von Nachrichten untersuche, die ich falsch finde und die andere glauben, so könnte das ein verzerrtes Bild liefern, da dies eben bestimmte Arten von Nachrichten mit bestimmten Eigenschaften sind. Selbst wenn ich nur Aussagen über Nachrichten mit genau diesen Eigenschaften treffen will, dann sollte ich das trotzdem nicht nur anhand der von mir für falsch befundenen tun, auf deren Grundlage ich nicht unbesehen verallgemeinern sollte. Denn dann bliebe womöglich die Frage: Warum glauben Menschen andere Nachrichten mit ähnlichen Eigenschaften nicht (die ich aber z.B. glaube und deshalb nicht untersucht habe)?

„Fake News“ sind also kein sinnvoller Forschungsgegenstand, zumindest wenn es einem um Glaubwürdigkeit geht, da ich nach Erklärungen suchen muss, ob Leute etwas glauben oder nicht, ob ich es nun glaube oder nicht. Außerdem bin ich stets verleitet, andere Erklärungen heranzuziehen, je nachdem, ob ich etwas für wahr oder falsch halte, denn das Falsche kann man nur aus irrationalen, verqueren Gründen glauben, so neigt man vielleicht zu denken, während das Wahre ja einleuchtet – oder meine besondere Einsicht eben nicht allen gegeben ist!

Hier muss man also auf so genannte Symmetrieprinzip verweisen (das aus der Wissenschaftssoziologie bzw. Wissenschaftsgeschichte kommt). Es besagt, dass die Erklärung dafür, ob eine wissenschaftliche Theorie oder irgendeine Aussage von anderen akzeptiert wird, nicht davon abhängig sein kann, ob die Aussage richtig oder falsch ist bzw. ob ich, der das erklären will, die Aussage richtig oder falsch finde. Oder anders formuliert: Wenn ich erklären will, warum andere eine Aussage glauben oder nicht, dann muss ich das auf die grundsätzlich gleiche Weise erklären, ganz gleich, ob ich die Aussage nun richtig oder falsch finde (bzw. ich darf in beiden Fällen keine Art von Gründen ausschließen). Oder noch anders: Meine eigene Haltung zum Wahrheitsgehalt einer Aussage darf keine Rolle in dieser Erklärung spielen, darf kein Faktor in dieser Erklärung sein. Das schließt natürlich nicht aus, dass diejenigen Gründe, die mich von der Richtigkeit überzeugt haben, auch andere überzeugt haben und deshalb deren Haltung zu einer Aussage erklären. Ihr Urteil kann jedoch auch von ganz anderen Dingen beeinflusst worden sein, die für mich völlig irrational erscheinen. Sie könnten (aus meiner Sicht) etwas Richtiges aus den falschen Gründen glauben. Und das Symmetrieprinzip verlangt eben auch, Überzeugungen mit gleicher Ernsthaftigkeit zu erklären, ob ich sie nun richtig oder falsch finde, und nicht etwa, entweder nur die Irrtümer oder den Sieg der Wahrheit für erklärungsbedürftiger zu halten.

II.

Der Fall Relotius ist auch nur eine Geschichte, das hat uns die Aufarbeitung durch den Spiegel gezeigt, die den gleichen Stil pflegte wie die fragwürdigen Stücke. Man kann aus Sachverhalten unterschiedliche Geschichten machen, bzw. unterschiedliche Sachverhalte rund um ein Thema herausheben, um eine Geschichte daraus zu machen – diejenige Art der Geschichte eben, die man sich vorstellt, deren Moral von der Geschichte man vermitteln will oder die einem unbewusst als Vorlage dient: Ist Relotius ein Bösewicht oder ein tragischer Held; ist es ironisch, dass jemand Dinge erfinden musste, damit man eine tiefere Wahrheit erkennt; oder ist sein Fall ein Realsatire auf den deutschen Journalismus, der gerne seine Vorurteile bestätigt sieht bzw. dem es auf eine schöne Schreibe ankommt und dem die soziale Wirklichkeit und menschliche Schicksale eigentlich egal sind? Das wären verschiedene Geschichten, die man erzählen oder auf die man anspielen könnte.

Es ist eine Frage der moralischen Wertung, nicht so sehr der sachlichen Richtigkeit, ob Relotius ein tragischer Held ist (viele würden aber halt sagen: Er ist es nicht, weil wir unter „Helden“ normalerweise eher moralisch integre Personen verstehen). Und es ist eine Frage der Urteilskraft, nicht so sehr der Richtigkeit im Detail, ob er und seine Geschichte in das Schema der Tragödie passt (viele würden aber halt sagen: Man muss sich das schon sehr zurechtbiegen, sehr selektiv hinschauen, um darin eine Tragödie zu erkennen). Die Geschichte, die wir in Ereignissen erkennen bzw. die Form, in der wie sie erzählen, ist also nicht so einfach wahrheitsfähig, sondern es geht um Wertungen (was wichtig und was richtig ist, was wir auswählen und wer Held oder Schurke ist oder etwas dazwischen, ob es sich um ein happy ending handelt oder nicht…) und um die Wahl des Erzählschemas (ob es für uns eine Tragödie, Farce, Komödie usw. ist oder nichts davon). Manches bleibt eine Frage der faktischen Richtigkeit (denn wie auch immer die Geschichte verläuft – sie zu erzählen heißt nicht einfach, sie in jeder Hinsicht zu erfinden), aber letztlich beruht die Geschichte auf Weltbildern. Was die Geschichte ist, die man in einer Sache sieht, hängt davon ab, ob man das Gute und Böse in Menschen sehen will, wohin man glaubt, dass die Gesellschaft und die Welt steuern und steuern sollten, ob man glaubt, dass die Welt so eingerichtet ist, dass das Gute letztlich belohnt wird oder das Chaos siegt, usw.

Wer glaubt denn noch an so was?, werdet ihr fragen! Erstens wahrscheinlich mehr als es eingestehen werden. Vielleicht würden wir es nicht so aussprechen, aber es zeigt sich an unseren Urteilen und Handlungen. Und zweitens ist auch der Glaube, dass man das alles nicht wissen könne, ein nur ein weiteres mächtiges Weltbild, das unsere Geschichten prägt.

Der Klassiker zur Frage, welche Geschichten wir nicht nur erfinden, sondern welche wir auch über die Wirklichkeit erzählen, welche Formen der Erzählung wir dabei wählen und welche Ideologien sich darin ausdrücken, ist das Werk von Hayden White.

Nun wurde viel über Whites Ansatz diskutiert, aber einige Ideen scheinen mir von seiner Analyse zu klassischen Werken der Geschichtsschreibung auf den Journalismus übertragbar, obwohl wiederum die Analyse journalistischer Produktion unter dem Gesichtspunkt der Narrativität auch keine neue Idee ist.

Manche journalistischen Beiträge erzählen tatsächlich chronologisch und mit erkennbarem Aufbau eine Geschichte, andere sind immerhin narrativ in dem Sinne, dass das Beschriebene konkret, bildlich vorstellbar ist. Hinter vielen Beiträgen steht auch eine implizite Geschichte, die als bekannt vorausgesetzt werden kann und nicht im Detail erzählt wird: Das Beschriebene ergibt Sinn im Rahmen einer historischen Erzählung, etwa der Erzählung von der Stimme für Trump, die sich rächt, weil er den Interessen der kleinen Leute schadet, oder der Geschichte, wie die politische Korrektheit um sich greift, wegen der man heute nichts mehr sagen darf, oder der Erzählung, dass die SPD niemals gewinnen kann, egal was sie tut, usw.

Und man erkennt die Ideologien, die mal offener, mal versteckter den Geschichten zugrunde liegen, nämlich daran, ob diese expliziten oder impliziten Geschichten gut oder schlecht ausgehen, wer darin gut und böse ist usw. Man erkennt, welches Bild sie von der Welt vermitteln, also dass z.B. nichts Gutes von Dauer ist oder dass hinter allem letztlich die gleiche Antriebskraft liegt; dass alles unvorhersehbar ist, aber meist doch gut läuft, wenn man sich nur auf die Eigeninitiative der Menschen verlässt; oder dass Nationen harmonische Ganze sind oder sein könnten usw. Das vermitteln uns journalistische Texte stets nebenbei oder sogar eindringlich, mal ganz gewollt oder mal eher unreflektiert.

White hebt gerade auch diejenige Formen der Erzählung heraus, die nicht erkennbar gut oder schlecht verlaufen, die betonen, dass sich etwas nicht in eine klassische tragische Form oder in eine Geschichte vom Sieg des Guten fügt. Der scheinbar naive Glaube an die Erzählbarkeit wird negiert, was jedoch eine ebenso grundlegende Vorstellung über die Geschichte impliziert wie andere geschichtsphilosophische Überzeugungen. Übertragen auf den Journalismus bedeutet das, dass auch die bewusst un-narrative Darstellung, die keine offenkundige „Moral“ hat, einer Überzeugung entspringt, wie Wirklichkeit „richtig“ darzustellen sei: nämlich so, dass das Leben keine Geschichten erzählt, zumindest keine klassischen. Das wirkt schön auf- oder abgeklärt, irgendwie moderner als die alten märchenhaften Erzählformen.

Was wir also von Hayden White lernen können, ist uns bewusst zu machen, welche Geschichte man erzählt oder erzählt bekommt und ob es nicht eher die Moral von der Geschichte, die zugrunde liegende Ideologie ist, die sich richtig anfühlt, obwohl wir nicht wissen (können), ob alles faktisch stimmt – oder vielleicht ahnen wir sogar, dass etwas unplausibel oder zumindest überhaupt nicht repräsentativ für ein Phänomen, sondern nur für unsere Vorurteile darüber ist, aber es fühlt sich doch irgendwie wahr an. Und selbst wenn wir versuchen, keine Geschichte zu erzählen, dann nehmen wir damit Stellung gegen all die möglichen Geschichten, die man erzählen könnte – oder erzählen eben doch eine, die uns ganz tief im Hinterkopf als Vorlage dient.

Ich will nun gar keine detaillierte Analyse liefern, welche Geschichten Relotius erzählt hat. Er hat auch nicht unbedingt nur eine Geschichte erzählt, ein Weltbild bedient, auch wenn es im Zweifelsfall oft eher dasjenige war, das gängigen Vorurteilen entsprach. Entweder den allgemein vorherrschenden oder denjenigen, die früher mal bei der taz und ihrem Publikum, später jedoch auch bei der NZZ, der Weltwoche oder dem Cicero irgendwie ankamen. Jedenfalls auch ein Weltbild, das den Jurys gefiel oder ihnen zumindest nicht aufstieß, sondern aufgrund des ganzen Erzählstils bekömmlich war.

Vielmehr will ich nur die These vertreten (die ja gar nicht so neu ist), dass die Attraktivität von Relotius‘ Beiträgen auf ihrer narrativen Form und den damit implizierten Weltbildern beruht. Daraus folgt aber, dass die Auseinandersetzung mit diesem Fall sich nicht nur auf Fragen der Wahrheit und Falschheit im Detail beschränken kann, sondern neben den Redaktionsstrukturen und grundlegenderen journalistischen Normen und Arbeitsweisen auch die Werthaltungen, Relevanzzuschreibungen, Ideologien usw. reflektieren muss, welche der Plausibilität und Attraktivität einer Geschichte zugrunde liegen. Denn diese können mindestens ebenso fragwürdig sein wie erfundene Details, wenn es etwa um gewalttätige Balkanbewohner mit archaischen Ehrvorstellungen, Trump-wählende Hinterwäldler oder einen Jungen geht, der durch Graffiti den Syrienkrieg ausgelöst haben soll (welch ein Geschichtsbild!).